Ich werde oft gefragt, warum ich mir das "antue", als Veganerin vor dem Schlachthof zu stehen und die Tiere in ihren Tod fahren zu sehen. Weil ich nicht mehr wegsehen kann. Wir Aktivist*innen von AVSG hoffen, dass mit jedem Mal, wenn wir da an der Hauptstrasse stehen und das industrielle Morden hinter uns bezeugen, jemand beginnt, diese Industrie zu hinterfragen.
Während der kalte Schleier der Nacht noch über der Stadt St. Gallen liegt, rollen im dunstigen Licht des frühen Morgens die ersten Lieferwagen mit der Aufschrift "Lebende Tiere" in die Einfahrt des Schlachtbetriebs. Der Berufsverkehr rollt in Massen vorbei. Kaum jemand, der dort in Gedanken versunken auf dem Weg zur Arbeit vorbei kommt, überlegt sich, was geschieht, wenn die LKWs in die Einfahrt gefahren sind und ihre "Ware" ausgeladen haben. Dass noch vor dem Sonnenaufgang hunderte von Tieren zusammensacken und ihr Leben aushauchen.
Der Mensch hat die Fähigkeit entwickelt, Dinge nicht sehen zu wollen. Sie zum Vorteil von Bequemlichkeit, dem eigenen Einkommen oder purem Amüsement zu filtern. Hätten Schlachthäuser gläserne Wände, wären die Konsument*innen dazu gezwungen, dem industrialisierten Tod in die unschuldigen Augen zu blicken und könnten das Leid hinter ihrem Konsum nicht mehr verdrängen.
Durchschnittlich werden (Zahlen von 2017) jede Sekunde zwei Tiere in der Schweiz geschlachtet. Das sind 8200 pro Stunde, 197 000 am Tag, 6 Millionen im Monat. Ein Grossteil davon geschieht unbemerkt hinter dicken Wänden, abseits von den Augen der Bevölkerung, die kaum einen Gedanken daran verschwendet.
Der letzte Blick auf ein lebendes Wesen, das nicht sterben will
Kaum ein*e Aktivist*in, die am frühen Morgen in St. Gallen vor dem Schlachtbetrieb steht, bleibt davon unberührt, wenn ein Lieferwagen in die "Abladeschneise" fährt und die feuchten Schnäuzchen von Kälbern oder die traurigen Augen von Kühen aus den Lüftungsschlitzen hervorblitzen. Uns allen ist klar, dass diese Tiere, noch während wir dort draussen stehen, sterben müssen. Eines nach dem anderen. Wie am Fliessband.
Die Ohnmacht, sich nicht vor den LKW werfen und alle Tiere befreien zu können, ist oft unerträglich. Das einzige, was wir Aktivist*innen innerhalb des gesetzlich erlaubten Rahmens tun dürfen ist, eine Mahnwache vor dem Schlachthaus abzuhalten und wenigsten zwei Stunden lang auf das industrielle Töten hinter den Mauern aufmerksam zu machen.
Wir bezeugen, was andere ignorieren
Als wäre das Bewusstsein dafür, was hinter uns geschieht, nicht schon genug des Gewichts, das wir auf unseren Schultern tragen, sind es auch die Reaktionen der Menschen, die oft schwer zu ertragen sind. Wir exponieren uns freiwillig. Nehmen das in Kauf. Aber müssen wir verstehen, wenn uns Mittelfinger, Kopfschütteln oder Drohgebärden zugeworfen werden, weil wir still da stehen und auf das Leid hinter uns aufmerksam zu machen versuchen?
Müssten Mütter, die vorbeifahren und uns die "seid ihr dumm"-Gebärde zuwirft, nicht daran denken, dass hinter uns Kälbchen, die ihren Müttern entrissen wurden, noch vor ihrem ersten Lebensjahr geschlachtet, ausgeblutet und schliesslich zur Befriedigung des Menschen in Plastik verpackt und in Sauce gekocht werden?
Während der zwei Stunden, die wir im Rahmen der von der Stadt bewilligten Demo auf einem uns zugewiesenen Stück Trottoir stehen dürfen, ist die Polizei immer präsent. Und das nicht etwa, weil wir Radikale sind, die den Schlachthof stürmen, sondern zu unserem Schutz. Die Mahnwachen, die Animal Vigil St. Gallen abwechselnd vor dem Schlachthaus und in der Innenstadt abhält, sind Teil einer weltweiten Bewegung, die es sich zum Ziel gesetzt hat, "Zeuge zu sein". Zeuge für das, was andere erfolgreich ignorieren. Und die Reaktionen sind nicht immer vorhersehbar. Weshalb wir an diesen Tagen, an denen jeweils rund 20 Aktivist*innen vor dem Schlachthaus eine Mahnwache abhalten, unter Polizeischutz stehen.
Immer wieder werden wir von den LKW-Fahrern fotografiert. Der ein oder andere wird sicher nach Hause fahren und von den "blöden Veganern" erzählen. Aber vielleicht gibt es auch irgendwann einen Bauern oder Fahrer, der davon berührt ist, was wir tun. Der sich überlegt, warum wir tun, was wir tun. Der beginnt, zu hinterfragen.
Niemand will sterben
Denn darum stehen wir in der Kälte früh morgens an diesem trostlosen Ort. Um aufzurütteln. Den Opfern der Industrie zu gedenken. Weil wir das industrialisierte Töten nicht mehr ignorieren können. Und weil wir hoffen, dass der ein oder andere auch beginnt, diese grausame Industrie zu hinterfragen. Niemand will sterben.
Text: Gisèle Ladner, Aktivistin bei Animal Vigil St. Gallen
